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2012

Spaziergänge in Einsamkeit

Jürgen Weichardt

Spaziergänge in Einsamkeit - Ausstellung von Gennady Karabinskiy im Palais Rastede von 13.Mai bis 8.Juli 2012

Menschen bei Karabinskiy –meine Damen und Herren - selten hat ein zeitgenössischer Künstler so viele Menschen gemalt wie Gennady Karabinskiy- Sie sind, darüber täuschen auch die großen schönen Stillleben nicht hinweg – das Hauptthema des Künstlers in dieser Ausstellung. Er zeigt nicht nur eine phantastische Anzahl - er verleiht allen Menschenköpfen auch ein individuelles Aussehen. Jede einzelne Figur ist eine Erfindung, eine Schöpfung, freilich von einer ganz spezifischen Art: Die Malerei, das Medium, erlaubt, auf die korrekte Anatomie zu verzichten. Gewiss gibt es Arme, Hände und Beine und Füße, vor allem Gesichter, aber alles zusammen ist den Formen eines Bildes, nicht der Anatomie untergeordnet. Die Malerei schafft eine eigene Welt. Die gemalte Welt von Gennady Karabinskiy kennt keine Wiederholung, keine Reihe oder Serie – aber auf der anderen Seite auch keine für uns Außenstehende nachvollziehbare Ähnlichkeit mit lebenden Personen.
Dennoch: Gennady Karabinskiy malt Personen, die für Typen stehen können, und als solche sind sie durchaus lebenden Menschen ähnlich. Der Künstler zögert, die gemalten Mitmenschen zu Karikaturen werden zu lassen, auch wenn bestimmte Figuren, die uns aus der historischen Bild-Literatur bekannt sein könnten, einen spezifischen Witz an sich haben –wie z.B. der junge Mann mit dem rotblauen Schlips und dem Hut. Aber darüber entscheidet jeder Betrachter selbst, ob er ihn kennt oder nicht.
Der Hut hat eine Delle – meine D. u. H., Ist Ihnen aufgefallen, dass der Hut auf dem Kopf eines jungen Mannes eine schöne runde Form hat, während doch fast alle Dinge in der Bilderwelt Gennady Karabinskiys eine zu mindest geschwungene Kurvigkeit zeigen, um nicht von Dellen oder Lücken oder Schwellungen zu sprechen. Diese positiven oder negativen Rundformen verwandeln alle Dinge und drängen Vertikale und Horizontale aus dem Bilderrahmen hinaus. Gennady Karabinskiy konzentriert sich offenbar in dieser Auswahl neben dem Menschenbild auf Pflanzen und Früchte, die von Natur aus sich nicht den geraden Linien menschlichen Werkens fügen und damit andeuten, dass das Wachstum in der Natur seine eigenen Gesetze hat.
Aber wenigstens könnten doch die Dinge, die der Mensch herstellt, hier die Vasen und Schalen, Töpfe und Teller, der Konstruktion mit geraden Linien entsprechen. Immerhin hat vor hundert Jahren eine große Bewegung in der Kunst, der Werkbund, auch in Russland für eine neue Einschätzung der geraden Linie gesorgt und den Jugendstil abgelöst. In den Bildern von Gennady Karabinskiy hingegen stehen die Gegenstände in Konkurrenz zu den Früchten, nicht zu den Bildrändern. Das gilt selbst für die Häuser, die einzeln oder in kurzen Straßenzügen in Bildecken oder zwischen den Dingen auftauchen, aber nicht den Rechten Winkel feiern, sondern mit krummen Wänden und schrägen Fenstern den Druck der verrinnenden Zeit abfedern. Sie bleiben klein, geduckt, und man möchte nicht glauben, dass aus ihrer Mitte ein Turm aufwächst, der Turm der Synagoge, das Zentrum einer kleinen Gemeinschaft. Schon mit diesen wenigen Details zieht der Künstler Gennady Karabinskiy in Zweifel, was andere seit hundert Jahren als Fortschritt gesehen und gepredigt haben. An solchen Beispielen kann uns verständlich werden, was französische Philosophen vor vierzig Jahren als Post- Moderne bezeichnet haben, das Ende der Moderne und die Freiheit der Stilarten.
Aber lösen wir den Blick nicht aus der Bilderwelt Gennady Karabinskiys. Mit historischen Andeutungen wird unsere Aufmerksamkeit auf Kräfte gerichtet, die der Künstler jedoch nicht malt, nicht einmal thematisiert, die aber seine Bilder dennoch zu bestimmen scheinen.
Ein Mittel dieser Kräfte ist die Zeit. Sie wird sichtbar im allgemeinen Werden und Vergehen, in der Endlichkeit. Die Phase zwischen Werden und Vergehen ist sehr lang, weshalb sich der Künstler wie viele vor ihm auf den zweiten Teil dieser Phase, auf das langsame Vergehen nach Überschreiten des Höhepunktes konzentriert hat. Das Vergehen ist, das wissen wir, dem Werden unmittelbar eingegeben, sodass im Grunde auch in allen Motiven, die in den Bildern von Gennady Karabinskiy das Kommen, Entstehen, Erscheinen andeuten, das Vergehen mit gesehen werden müsste. Dennoch ist auch das Werden, das dem Zenith noch zustrebt, in vielen Details zu entdecken: Kinder, junge Tiere, Pflanzen, die aus einem Blumentopf herauswachsen. Doch sind sie in der Minderheit. Deutlich ist auch, dass Gennady Karabinskiy nicht den Untergang malt, in keinem Bild wird unmittelbar von Katastrophen, Zusammenbrüchen, Tod, vom Post-Mortalen erzählt, wie beispielsweise in berühmten Bildern von Edward Munch und anderen. Immer bleibt die Distanz, die der Lebende gegenüber dem Tod hat, erhalten.
Noch deutlicher wird auf das Phänomen Zeit angespielt, wenn Gennady Karabinskiy die Uhr ins Bild rückt, ein Motiv, das wir von Chagall her kennen, das Karabinskiy verdoppelt und verdreifacht, ohne die eigentliche Aussage zu verändern – die Zeit verrinnt. Die Zeit hat keinen Ort, sie wirkt überall. Folglich löst auch Gennady Karabinskiy wie Chagall die Uhr aus dem Zusammenhang eines Wohnzimmers und läßt sie allein oder im Verbund mit anderen im Raum schweben. Sie ist das augenfälligste Zeichen des Verrinnens. Und sie hat keinen festen Ort.
Das Andere in der Bilderwelt– Obst und Gemüse, Vasen, Schalen, Becher, Gläser, und manches mehr - wird auf relativ kleiner Fläche dargestellt, d.h. selbst wenn wir nach einem Tisch suchen, sind seine Ränder oder Kanten meist verdeckt oder aufgelöst – das Vergehen kennt in der Malerei den einfachen Vorgang der Formauflösung – die Form verschwindet in den Farben seiner Umgebung, der Gegenstand löst sich auf. Gennady Karabinskiy ist ein Meister, ein Zauberkünstler dieser aufkommenden und vergehenden, werdenden und verfliegenden Ding-Darstellung. Und es ist durchaus sinnvoll, in anderem Zusammenhang zu fragen, ob dieser relativ schnelle Wechsel des Entstehens und Verschwindens auch in anderen Erscheinungen sichtbar wird, etwa im menschlichen Antlitz, in seiner Vielfarbigkeit, die sich dann auf die Stimmungen auswirkt.
Doch zunächst führt diese Beobachtung zur Frage nach dem Raum in den Bildern. Es liegt nahe, die Stillleben in Innenräume anzusetzen; doch ist davon nur ganz selten etwas zu sehen – einmal eine Zimmerecke, sonst bleibt nur die Vermutung, dass sich die überbordende Fülle der Stillleben in einem Zimmer befindet. Aber so wie die Formen in andere Farben tauchen und verschwinden, sind auch die Räume in dieser Bilderwelt grenzenlos und offen. Sie geben den Blick frei auf Häuschen und Straßenzug, auf Turmgebäude, Synagogen und sogar auf Brücken, die von mehreren Türmchen gekrönt werden. Kurz – die Bilder von Gennady Karabinskiy kennen keinen festen Raum, sie sind so offen wie sie im Fluss der Zeit dahinfliegen. Darum greifen die Menschen in den Bildern nach etwas Greifbarem, nach Obststücke und Kruggriffen, nach etwas Konkretem, nicht nach Inhalten oder Begriffen, die irritieren können – wie etwa Bücher mit ihrer Scheinwelt.
Gennady Karabinskiys Bilder sind keine Lehrstücke, sondern Malerei. Doch malt dieser Künstler auf der Basis einer festen Überzeugung und eines großen Wissens. Wenn er – was ich mir vorstellen kann –mit dem entstehenden Bild diskutiert, wie es in der angebrochenen Komposition weitergehen soll, dann reden nicht nur die schon akzeptierten Formen mit, auch die Farben. Aber bleiben wir noch bei den Formen. Gegenüber Werken in früheren Ausstellungen hat der Künstler hier ein Panorama von oft mehrteiligen Stillleben ausgebreitet. Sie lassen nur am Rande zu, dass eine Hand ins Bild greift oder aus dem dichten Geflecht von Topfpflanzen und Obststücken ein Gesicht sich zu erkennen gibt, sie bleiben Mittelpunkt der gesamten Komposition. Das Stillleben bleibt dominant, ist breit ausgedehnt und übervoll mit Früchten. Gennady Karabinskiy weiß um ihren Symbolwert, er setzt ihn in voller Absicht ein, er zögert nicht, die Zeichen für Fruchtbarkeit und Niedergang zu malen und ihre Form und Bedeutung in den Bildern auszukosten. Er vermeidet nicht diese eigentümliche Spannung zwischen Genießen und Verlieren, zwischen Trinken und Dürsten, wenn er das Panorama an Stillleben-Früchten vor uns ausbreitet. Es hat im Barock schon Früchte-Stillleben gegeben, die dem Betrachter das Wasser im Mund zusammenziehen. Und dem damaligen Zeitgeist entsprach, dass diese Stillleben das Vergehen des Lebens deutlich thematisiert haben. Doch sehe ich Unterschiede in der Auffassung zwischen barocken und zeitgenössischen Stillleben, für die die Arbeiten von Gennady Karabinskiy stehen können: Das Stillleben des 17. Jahrhunderts mahnt den Auftraggeber, den reichen Bürger, den Adeligen, den Jagdherrn, den Fürsten und letztlich auch den Kaiser und den Papst vor dem Gedanken an die Dauer des Irdischen. Die Menschen der Ländereien und Städte waren gewiss mit gemeint, aber sie konnten die Mahnung nicht sehen, und dem Maler war das letztlich auch egal.
Anders das moderne Stillleben in der Art der Bilder von Gennady Karabinskiy. Ihre Mahnung richtet sich an den Menschen, und damit sind die oben ebenso gemeint wie die unten. Und die Figuren, die der Künstler in seinen Bildern auftreten lässt, kommen vorzugsweise aus jener Schicht, die die barocken Stillleben nicht sehen konnten, auch wenn sie von der Aussage betroffen waren.
Das Wesen der Bilder aber sind die Farben. Sie haben ein eigentümliches Verhältnis zu den Menschen und Dingen in den Bildern. Ihre Erscheinung wird von vielen Farben unterstützt, aber diese halten sich nicht an die Konturen; sie können über die Formenränder wie über Grenzen hinweggehen –eine Methode der Kunst des 20. Jahrhunderts, aber sie verhüllen nicht die Figuren und Gegenstände. Sie kleiden die Köpfe und Behälter in den Stillleben, aber sie verzichten auf eine scharfe Trennung.
Freilich gibt es Ausnahmen: Die Beeren und Trauben, die Apfel, Birnen und Zitronen, auch die leeren Obstschalen treten fast plastisch hervor; sie sind Fixpunkte in der reichen Farbigkeit der Bilder.
Diese Farbigkeit wird im Grunde von Kontrasten bestimmt, manchmal auch von komplementären Farbverbindungen, doch auffälliger Weise genügt es Gennady Karabinskiy nicht, eine Komposition in monochromer Farbigkeit aufzubauen. Die Welt ist bunt, die Zeit der grauen Städte ist lange vorbei. Allerdings lässt sich unser Künstler auf die Buntheit der Welt nicht ein – er entwickelt eine von der gesehenen Welt ganz unabhängige Farbigkeit: Großflächig, aber in sich vielfältig differenziert, fordert eine Farbe die andere heraus und zwingt sie nicht nur zu einem Kontrast, auch zum Hell- Dunkel-Gegensatz und zu Farbenverläufen. Eine dritte Farbengruppe kann ins Bild kommen, sie mag ihrerseits provozieren, sie mag auch den ursprünglichen Kontrast reduzieren, sie erweitert das Farbenspektrum und mildert Gegensätze.
Es ist unzweifelhaft, dass die Stimmung in den Bildern von Gennady Karabinskiy von ihren Farben abhängt; die Farben kolorieren nicht die Welt, sie tauchen die Welt ein in den Ozean der Stimmungen, die Menschen auf und vor der Leinwand empfinden können. Da aber jeder Mensch auf Farben anders reagiert, lassen sich diese Stimmungen kaum benennen. Wir können sie in Verbindung setzen zu den Bildinhalten, aber der oft in den Bildern angesprochene melancholische Zug dieser Malerei korrespondiert nicht mit der Fülle frischen Obstes und aufblühender Pflanzen, so dass sich auch hier ein in seinen Konturen wie in seiner Fülle nicht fixierbarer Kontrast zwischen Farbstimmung und Dingfülle entsteht.
Darüber staunen die Menschen in den Bildern. Sie fühlen sich vielleicht fremd vor den Stillleben – selten sehen wir eine Geste des Zugreifens – aber oft ein Verharren vor der Pracht, die mit großen Augen betrachtet wird. Fast jede Gestalt, jeder Kopf hat diese übergroßen Augen, und ihr Ausdruck ist nicht immer leicht zu deuten. Oft sehe ich in den Augen mehr als nur ein Erstaunen, nicht selten einen Schrecken oder ein Erschrecken – ihr Ausdruck ist das Gegenteil zu der überströmenden und meist übertriebenen Freude, die uns im Fernsehen immer wieder vorgespielt wird.
Gennady Karabinskiy hat seine Ausstellung mit der Fügung „Spaziergänge der Einsamkeit“ überschrieben. Die Fügung ist auch ein Bildtitel, das Bild hängt am Ausgang der Ausstellung. Auch das kann gedeutet werden: Nicht die Ausstellung sollte zu Spaziergängen der Einsamkeit verleiten, sondern die Welt draußen außerhalb der Kunsthalle. Denn vor den Bildern ist der Betrachter nie allein, auch dann nicht, wenn im Bild keine Person zu sehen ist. Das Bild selbst ist der Dialogpartner, das Bild stellt Fragen und antwortet auf Fragen. Draußen aber ist die Welt fremd, die Menschen schweigen, je mehr sie reden, die Bäume schütteln ihre Wipfel und fragen höchstens, warum sie nicht in den Bildern vorkommen, und zuletzt der Himmel, der doch jeden unserer Blicke abschließt. Dieser Abschluss findet keinen Reflex in den Bildern, der Himmel kommt in ihnen kaum vor, einmal ein Stückchen blaue Farbe - das ist alles.
Jürgen Weichardt